Für manche ein Kurpfuscher – für viele ein Retter
Nervenbahnen verbinden viele Punkte unseres Körpers. Kaltes oder warmes Wasser wirkt nicht nur an der Stelle, an der es die Haut berührt, sondern löst Veränderungen auch in anderen Regionen aus. So fördert ein Knieguss die Durchblutung in den Händen, ein Brustwickel sorgt für warme Füße. Und Fußbäder erweitern die Blutgefäße in der Nasenschleimhaut. Kneipp hat das in einem rein wissenschaftlichen Sinne nicht wissen können. Das Hormon Kortison etwa wurde erst in den 1930ern Jahren überhaupt entdeckt. Aber die Wasser-Anwendungen zeigten Wirkung. Kneipp therapierte nicht nur sich selbst mit Güssen aus der Gießkanne des Gärtners im Dominikanerinnenkloster von Wörishofen, wohin er nunmehr als Priester und Beichtvater versetzt worden war, sondern auch immer mehr andere. Sie kamen zu ihm, um Hilfe zu finden in ihrem Leid. Und in Wörishofen begann man sich an diesen Anblick zu gewöhnen. Menschen, die barfuß über taufeuchte Wiesen staksten oder mit hochgezogenen Beinkleidern durch den Wörthbach. Eine moderne Gesundheitsbewegung. Ihr Zentrum war – und ist noch immer: das Allgäu.
Es kam aber auch zu Klagen. Einzelne Apotheker und Ärzte bezichtigten den Pfarrer der Kurpfuscherei, man wollte ihm den Umgang mit den Patienten verbieten. Doch hatte man die Rechnung nicht gemacht mit einem zwar liebenswürdigen, doch nicht minder beharrlichen Kämpfer. Sebastian Kneipp glaubte zutiefst an das Gute in seinem Tun. Und täglich, so sagte er, gaben ihm unzählige Heilungsuchende und Geheilte Recht. In freundlichen, aber unmissverständlichen Worten stemmte sich der Pfarrer gegen alle Anklagen. Immer wieder gab es Kritik, es kam sogar zu einzelnen Brandstiftungen gegen das Kloster. Und doch wurde Wörishofen zum Zentrum der Hydrotherapie. Immer mehr Menschen kamen in den Ort. Unterstützt von bis zu 13 Ärzten hielt Sebastian Kneipp seine Sprechstunden ab. Bis zu 300 Patienten konsultierten ihn täglich. 1893 zählte Wörishofen mehr als 30.000 Kurgäste und mehr als 100.000 „sonstige Besucher“.
Der Erfolg Kneipps fällt in eine besondere Zeit. Deutschland befand sich in einem dramatischen Prozess des Umbruchs: Diverse Kriege waren geführt worden, das Land verwandelte sich von einem kleinstaatlichen Vielvölkerstaat zur politischen Großmacht. Die Industrialisierung veränderte ganze Regionen, Fabriken wurden gebaut, die Eisenbahn erschloss das Land, immer mehr Menschen wurden zu Proletariern. Harte Arbeit und Entfremdung sorgten dafür, dass sich der Städter nach der Natur sehnte, nach der Ferne. Die Romantik erblühte, der Kolonialismus erstarkte. Das Individuum im Mahlstrom der Zeit. Und plötzlich bot jemand die geeignete Lebensphilosophie. Kneipps Anwendungen linderten auch die Leiden einer entfesselten Epoche. Seine Zuwendung vermittelte dem Einzelnen ein Gefühl der Geborgenheit und Wärme.