Eine Bauernfamilie gestaltet Zukunft – mit gefährdeten alten Tierrassen
Auf dem Archehof Birk bei Weitnau setzt man auf Tiere von der Roten Liste: Augsburger Hühner, Original Allgäuer Braunvieh und Braune Bergschafe.
Auf dem Archehof Birk bei Weitnau setzt man auf Tiere von der Roten Liste: Augsburger Hühner, Original Allgäuer Braunvieh und Braune Bergschafe.
Weitnau. In Hellengerst gehört die Straße den Kühen. Keine Autos, keine Leute, nur eine Herde, die breit zur Weide schaukelt. Ein Bub mit einem Stock, der größer ist als er, zeigt den Tieren den Weg. Ludwig geht heute nicht in den Kindergarten, er will daheim nichts versäumen. Denn dort unten auf dem Bauernhof, wo die Straße zu Ende geht, beginnt ein neues Kapitel. Die Familie baut ihre Zukunft auf einem Landwirtschaftsbetrieb mit gefährdeten Tierrassen auf.
„Brauchst sie nicht hetzen, Ludwig. Die kommen dann schon.“ Barbara Birk wartet am Zaun auf Sohn und Vieh. Vorsichtshalber nimmt sie die kleine Viktoria bei der Hand, während die ersten Rinder mit großen Köpfen und mächtigen Hörnern vorbeiziehen. Es ist Original Allgäuer Braunvieh, das da die Straße heraufkommt. Jedenfalls ein Großteil der Herde. Und es sind Braune Bergschafe auf der einen, und Augsburger Hühner auf der anderen Seite des Weges, an denen die Kühe soeben vorbeigestapft sind.
Diese Tiere auf dem Archehof Birk habe zwei Dinge gemeinsam. Erstens: Ihre Rassen stehen auf der Roten Liste der GEH* und gelten als „stark“ bzw. sogar „extrem gefährdet“. Von den Augsburger Hühnern soll es insgesamt nur noch wenige Hundert Stück geben. Und: Alle drei Gattungen stammen aus Bayern. Seit 15 Jahren ist der Landwirtschaftsbetrieb im Oberallgäu bereits Bioland-Hof. Wenig später beantragten die Birks auch eine Zertifizierung als Archehof** – aus Begeisterung für alte Tierrassen. Doch der Landwirtsfamilie geht es nicht um Nostalgie. Es geht um den entscheidenden Blick voraus.
Ludwig begleitet die letzten Kühe zur offenen Zaunstelle und schließt eilig den Draht. Groß ist die Weide nicht. Aber das soll so sein, erklärt Papa Wolfgang Birk, der mit dem Traktor und einem frischgefüllten Wasserfass heraufknattert. „Wir machen bei einem wissenschaftlichen Projekt mit.“ Ziel ist es, Fruchtbarkeit und Fassungsvermögen des Bodens zu steigern. Dann kann er Starkregen und Dürren besser kompensieren. Für das Experiment sollen die Rinder nur einen Tag je Parzelle verbringen.
„Schneller, höher, weiter geht irgendwann nicht mehr“, sagt Wolfgang Birk. „Vor allem dann, wenn man mit Natur und Tieren arbeiten will.“ Es muss andere Wege in der Landwirtschaft geben, hat sich der Agraringenieur damals gesagt, als er vor rund 20 Jahren den Betrieb in vierter Generation vom Vater übernahm. Ein neuer Laufstall für die Rinder und die Umstellung auf ökologischen Landbau waren die ersten beherzten Schritte. Seitdem geht es dem Landwirt darum, den natürlichen Kreislauf seines Betriebs zu schließen. Die ursprünglichen Tiere aus einer Zeit vor der leistungsorientierten Optimierung ihrer Rasse, sind dabei ein wichtiges Puzzleteil.
Das Oberallgäu bzw. Hellengerst und Umgebung sind eine reine Grünlandregion. Das bedeutet, die Birks bewirtschaften ausschließlich Wiesen und Weiden, 70 Hektar bilden die Basis des Hofes. Für einen runden Betrieb braucht es nun Tiere, die gerne und gut Grünland verwerten – so wie das Original Allgäuer Braunvieh.
Eine Milchleistung von 5000 Litern pro Kuh und Jahr kann Wolfgang Birk vermelden. „Das schaffen die allein aus unserem Gras“, betont der 49-Jährige stolz. Fakt ist, eine moderne Milchkuh aus leistungsorientierter Zucht würde mehr als 9000 Liter Milch im Jahr liefern. Dafür müsste sie aber reichlich Kraftfutter fressen, welches Wolfgang Birk zukaufen müsste. Und schließlich würden überschüssige Nährstoffe in der Gülle zu Problemen auf den Flächen führen und das Gleichgewicht seines Betriebs gefährden. Wolfgang Birk ist keiner, der gern belehrt. Aber dieses Thema ist ihm wichtig. Sein Archehof soll als natürlicher Kreislauf funktionieren.
Die gute Grünfutterverwertung ist beim Allgäuer Braunvieh historisch bedingt, weiß Wolfgang Birk. Schließlich stammen die Rinder genau aus dieser voralpinen Region, die Tiere haben sich an die Bedingungen und das Futterangebot angepasst. Außerdem sind die Rinder genügsam, robust und friedlich. „Wie der Allgäuer“, wirft Barbara Birk (41) schmunzelnd ein.
Es war 1988, als nur noch eine einzige Kuh der Rasse Original Allgäuer Braunvieh auf dem Hof in Hellengerst lebte; das Tier war bereits 17 Jahre alt. Und es war ein junger Wissenschaftler, der plötzlich dort am Ende der Straße auf dem Hof stand – auf der Suche nach den letzten, verbliebenen Exemplaren. Wolfgang Birks Vater willigte ein, die betagte Kuh noch einmal zu besamen – mit Samen aus der Tiefkühltruhe. Denn zu diesem Zeitpunkt war bereits kein reinrassiger Besamungsbulle mehr vorhanden.
„Und tatsächlich ist da ein Kuhkalb rausgekommen“, erzählt Wolfgang Birk. „Und aus dem einen Kalb ist quasi dieser Haufen hier entstanden.“ Der Landwirt steht mit Frau und zwei Kindern am Zaun und beobachtet die grasende Herde. 50 Milchkühe sind es insgesamt. Zwei Drittel davon sind Originale Allgäuerinnen, die zur Nachzucht eingesetzt werden. Das Jungvieh verbringt den Sommer auf der Alpe, wo es wegen seiner Trittsicherheit gefragt ist.
Die Augsburger Hühner machen den Birks das Züchten nicht so leicht. „Die sind nicht ganz zufällig vom Aussterben bedroht“, sagt Barbara Birk. „Die legen wenig und brüten nicht gern.“ Ludwig saust die steile Treppe zum Hühnerstall hinauf und öffnet ein Türchen neben dem Gatter. Eine Henne blickt ihn verdutzt an. Ludwig sammelt behutsam die gelegten Eier aus dem Gruppennest und reiht sie auf. Die Eier sind unterschiedlich, ebenso wie die Hühnerschar. Das Schneeweiße muss von einer Augsburgerin sein.
Die Augsburger sind die einzigen in Bayern erzüchteten Hühner. Das ist auch der Grund, warum die Birks sie halten. „Meiner Erfahrung nach kommen Tiere dort am besten zurecht, wo die Rasse herstammt“, so Wolfgang Birk. Einem gewissen Julius Meyer aus Haunstetten bei Augsburg gelang um 1880 die Kreuzung aus französischen La Fleche- und italienischen Lamotte-Hühnern. Zuchtziel war ein robustes Huhn, das der südbayerischen Witterung trotzt, mit guter Legeleistung und etwas Fleisch an den Schenkeln.
Die Zweinutzungsrasse verbreitete sich immerhin bis in den südlichen Schwarzwald, spätestens mit dem Aufkommen des Hochleistungsgeflügels in den 1950er Jahre spielten die Augsburger aber keine Rolle mehr. Nur dank engagierter Züchter sind die Hühner bisher nicht komplett verschwunden.
Bemerkenswert ist vor allem die edle Erscheinung der Augsburger Hühner. Wolfgang Birk greift sich ein hübsches Exemplar aus dem Stall, bevor Ludwig die Klappe zum Freilauf öffnet. Das Huhn zwischen den großen Händen trägt ein schwarzes Federkleid, das grün in der Sonne schimmert. Die schuppigen Beine sind nackt und grau, der Körper lang. Die Augen glänzen schwarz aus dem roten Gesicht heraus, ein besonderer Kontrast ist die leuchtendweiße Ohrscheibe. Sie verrät: Das Huhn legt weiße Eier.
Unverkennbar aber ist das Augsburger Huhn an seinem tiefroten Kamm, der sich oberhalb des dunklen Schnabels teilt. Der Kamm erinnert an einen Becher oder eine majestätische Krone. Die Küken schlüpfen zwar mit grauweißen Federn, ein Ansatz für den Kronenkamm ist aber bereits zu sehen.
Sechs junge und zwei ältere Augsburger kann Barbara Birk momentan zählen. Insgesamt sind es 30 bunte Hühner, die zwischen den Sträuchern herumpicken. Der Futterweizen kommt von einem befreundeten Ackerbauern. Ein Mobilstall auf der Weide soll aber bald dafür sorgen, dass auch die Hühner ihren Beitrag zum Hofkreislauf leisten und die vorhandenen Flächen stimulieren. Die Eier nutzt die Bäuerin für Nudeln und zum Backen fürs Hofcafé, das jeden Freitagnachmittag öffnet.
Die kleine Viktoria streicht dem schwarzen Huhn in Papas Händen ein paarmal kräftig über Gesicht und Kopf. Das Tier bleibt ruhig. „Unsere Tiere sind sehr umgänglich, abgehärtet. Bei uns ist immer was los.“ Im sanierten Altstall mit den roten Fenstern befinden sich Veranstaltungsräume, Barbara Birk bietet Seminare an und Hofführungen. Sie mag es, wenn sich was rührt. Ein bunter Bauernhof mit unterschiedlichen Tieren war ihr Wunsch, als sie mit 20 Jahren und ohne landwirtschaftlichen Hintergrund aus Landsberg her geheiratet hat. Ihre Lieblingstiere am Hof sind jedoch die Braunen Bergschafe – und deren Lämmer.
Die Beine weit ausgestellt, den Hals lang gestreckt, saugt eines der Lämmer fest an Mutters Zitzen. Über zu wenig Nachwuchs kann sich die Bäuerin auf dieser Weide nicht beklagen, mehrere Lämmchen verstecken sich zwischen den braunen Rücken der Großen. „Die Schafe lammen bei uns oft zweimal im Jahr“, sagt die Technikerin für Hauswirtschaft und Ernährung. Etwa 70 Böcke und gut 1.300 Mutterschafe hat die GEH* bei der letzten Erfassung der Rasse 2018 notiert. Die wenigen männlichen Tiere werden von den Züchtern durchgetauscht.
Wolfgang Birk zieht einige Pfähle des Schafzauns aus der Erde, einen nach dem anderen, und geht damit den Grashügel hinunter. Die Herde bekommt heute ein Stück frische Wiese dazu. Frühling, Sommer und Herbst verbringen die Schafe draußen, ein Unterstand genügt, erst im Winter geht’s in den Stall. Das Leitschaf hat nun Wind von der Aktion am Zaun bekommen, es läuft zum neuen Wiesenabschnitt. Der Rest der Herde eilt dicht aneinandergedrängt hinterher.
Die heutigen Bergschafrassen stammen vom Steinschaf aus Bayern und Tirol ab und entstanden aus einer Kreuzung mit dem norditalienischen Bergamasker-Schaf. Das Braune Bergschaf soll 1934 von einem bayerischen Herzog aus Tirol mitgebracht worden sein. Das Schaf trägt keine Hörner, dafür hat es lange und breite Hängeohren, sein Fell ist cognac- bis sattbraun. Auf dem Archehof Birk wurden die Schafe vor einigen Tagen geschoren, dann sind sie dunkler. Ein besonderes Merkmal ist der ramnasige Kopf, also eine deutlich nach außen gewölbte Nasenpartie. Harte Klauen sorgen für gute Steig- und Trittsicherheit.
„Mir haben die immer schon gefallen. Die schauen einfach nett aus“, sagt Barbara Birk. „Und sie sind gute Grünlandverwerter“, ergänzt Wolfgang Birk. Außerdem sind die Tiere genügsam und robust. Die Milch der Mutterschafe reicht nur für die Lämmer, die Tiere liefern dafür reichlich Wolle. Aus den groben, warmbraunen Loden werden traditionell Bayerische und Tiroler Trachten und Hüte hergestellt. Auch Sitzunterlagen oder gefilzte Taschen sind möglich. Das Lammfleisch vermarktet die Bäuerin auf Bestellung. „Um eine ausgewachsene Direktvermarktung kommt man auf einem Archehof kaum herum“, sagt Barbara Birk.
Das Original Allgäuer Braunvieh das weiterhin friedlich oben auf der Weide grast, liefert den Birks in erster Linie Milch. Die Familie vermarktet aber auch Fleischpakete von Rind und Kalb sowie verschiedene Rohwurst und Käse. „Und wir gehen noch einen Schritt weiter“, sagt Barbara Birk. „Wir lassen auch Kalbfelle gerben.“ Die kann man als Teppich oder Sitzpolster nutzen. Aus dem Rindsleder entstehen Taschen und Täschchen. Aus den Kuhhaaren fertigt eine Künstlerin Armbänder an. Barbara Birk pflegt ihr Netzwerk und stößt regelmäßig auf neue Produktideen.
„Mir ist wichtig, dass die Leute sehen, was alles möglich ist. Das ist mehr als man denkt!“ Die Birks bieten sogar Hundefutter aus Schlund, Gurgel und Innereien an. Alles von den Tieren soll verwertet werden. Und alles von den Tieren muss verwertet werden, wenn das Geschäftsmodell Archehof aufgehen soll.
Als nächstes Puzzleteil planen die Birks nun eine eigene Hofmolkerei. „Ein großer Traum“, sagt Barbara Birk. Sie kniet neben dem Tank in der Milchkammer und dreht den Hahn auf. Die frische Biomilch schießt eiskalt in die Glasflasche. Diese Rohmilch soll bald hier in Hellengerst zu haltbarer, pasteurisierter Trinkmilch und zu Joghurt verarbeitet werden. Ein ehrgeiziges Projekt, das mit Hilfe von privaten Investoren verwirklich werden soll. Die Familie bietet eine Geldanlage in Form von erwerbbaren Genussrechten an, der Zins kann in Hofprodukten ausbezahlt werden.
Die Hofmolkerei ist aber freilich nicht die letzte Idee der Birks. Der Archehof soll in Zukunft noch vielfältiger werden. Entweder durch weitere, ausgefallene Hühnerrassen, die sich zur bunten Gruppe gesellen. Oder durch eine Horde Landgänse. Barbara Birk hat schon eine spezielle Rasse im Blick. Die gilt als stark gefährdet. Und sie stammt aus Bayern.
*Archehöfe sind keine Gnadenhöfe. Die Tiere dort warten nicht auf ihr friedliches Ableben. Sie stehen voll im Saft, produzieren Milch, Fleisch, Eier, liefern Wolle, Horn, Leder oder andere Rohstoffe. Auf einem Archehof wird mit vitalen Nutztieren gearbeitet und gewirtschaftet. Der entscheidende Unterschied: Es handelt sich um Tiere alter und vom Aussterben bedrohter Rassen. Mindestens drei Gattungen, die auf der Roten Liste gefährdeter Arten stehen, müssen auf einem offiziellen Archehof gehalten bzw. mit zweien sogar gezüchtet werden. Die Herausforderung: Die Tiere sind selten einseitig leistungsstark. Ein lohnender Betrieb erfordert deshalb Kreativität, Leidenschaft und harte Arbeit. .
**Die Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen e.V. – kurz GEH – will das Aussterben alter Haustierrassen verhindern. Den Verein gibt es seit 1981, bundesweit zählt er über 2100 Mitglieder – das sind Landwirte, Tierzüchter und Engagierte aus den Bereichen Agrarwirtschaft, Biologie und Veterinärmedizin und Unterstützer, denen der Erhalt alter Rassen wichtig ist. Die GEH zertifiziert Betriebe als Archehöfe, es gibt aktuell über 90 in Deutschland, zwei davon befinden sich im Allgäu. Der Verein ist Ansprechpartner für die Züchter und aktualisiert jährlich die Rote Liste der gefährdeten Nutztierrassen.
Text: Resi Agentur
Bilder: Felix Baab